Im Rahmen seiner Tätigkeiten in der Präsidialdirektion der Stadt Biel und der IG Innenstadt Biel/ Bienne hat sich der Bieler Wirtschaftsförderer Thomas Gfeller intensiv mit dem Thema Stadtentwicklung befasst. Streetlife Redaktor Jürg Freudiger kennt ihn aus Studienzeiten; das Interview wurde coronabedingt per Videokonferenz geführt.
Thomas, du hast die Situation von Biel mit vielen anderen Städten verglichen. Inwiefern ist die Bieler Innenstadt typisch?
Thomas Gfeller: Die Herausforderungen, mit denen sich Innenstädte praktisch weltweit konfrontiert sehen, sind in Biel eins zu eins erkennbar. Nur sind sie hier noch etwas akuter, weil einerseits die Bieler Einkaufsmeile für die Grösse der Stadt zu lang ist und Biel andererseits nicht über eine besonders kaufkräftige Bevölkerung verfügt.
Welches sind denn die besagten Herausforderungen?
Prinzipiell kann man sagen, dass die Geschäftsmodelle der klassischen Innenstadt immer schlechter funktionieren. Die Prämisse war, dass die Menschen mit dem Auto in die Stadt fahren, hier im grossen Stil einkaufen und eine Menge Geld liegen lassen. Den ersten Schlag gegen dieses Konzept bildete das Entstehen von grossen Einkaufszentren in den Stadtperipherien, welche übrigens mit ihren Begegnungszonen, Malls und Cafés eine funktionierende Innenstadt simulieren. Den zweiten Schlag bildete das Aufkommen des Internethandels. Denn E-Shops sind die effizienteste Umsetzung des Regalsystems.
„Prinzipiell kann man sagen, dass die Geschäftsmodelle der klassischen Innenstadt immer schlechter funktionieren.“
Was meinst du mit Regalsystem?
Beim klassischen Retail befindet sich jeweils das ganze Sortiment im Laden, welcher dann wie ein begehbares Regal funktioniert. Das braucht in der Realität extrem viel Fläche – im Internet aber keine; und dagegen hat weder eine Modeboutique noch ein Uhrenladen eine Chance. Moderne Retaillösungen sehen daher anders aus: Sie präsentieren sich sehr wohl physisch, machen die Marke erlebbar, sprechen die Sinne an – aber es braucht nicht mehr das volle Sortiment, sondern vielleicht nur die top Produkte plus eine Konfigurationsmöglichkeit, die Bestellung erfolgt dann online.
Das braucht also weniger Quadratmeter?
Genau. Und damit sind wir beim dritten Punkt: Die Immobilienbesitzer in den Innenstädten werden umdenken müssen. Statt wie bisher viele Quadratmeter zu einem hohen Preis über zehn Jahre zu vermieten, werden sie kleinere Läden für kürzere Zeit deutlich billiger und vielleicht nur für eine Zwischennutzung vermieten. Dafür werden sie den Rest der Immobilie flexibler nutzen, beispielsweise den über dem Retail-Geschäft liegenden Wohnraum. Der bietet ja eine grossartige Lagequalität und kann, wenn gepflegt, zu einem guten Preis vermietet werden. So kann der Liegenschaftseigentümer die tiefere Ladenmiete kompensieren.
Hat das Auswirkungen auf die Mieter der Ladenlokale?
Ganz sicher! Durch die tieferen Ladenmieten können sich plötzlich wieder naheliegende und niederschwellige Angebote die besten Innenstadtanlagen leisten; also beispielsweise lokales Gewerbe statt internationale Modeketten.
Und darüber Raum für urbanes Wohnen. Ein Trend?
Unbedingt, ja, in allen Generationen. Und vor allem bringt diese Entwicklung eine positive Wende: Das Geheimnis erfolgreicher Innenstädte ist nämlich der Nutzungsmix: vertikal, wie soeben gesehen, Geschäftsräume unten und Wohnen oben, aber auch horizontal: Der Strasse entlang entsteht ein Mix aus Gastronomie, möblierten Aussenflächen etwa für Kinder, Retailunternehmen, Dienstleistungen, Gewerbe. So werden Innenstädte wieder – wie übrigens in der Antike und im Mittelalter – Orte das Aufenthalts, der Begegnung, des Lebens.
Und was bedeuten diese Trends für den Verkehr?
Innenstädte, die komplett aufs Auto ausgerichtet sind, gehören zu den Verlierern, das ist ein veraltetes Mobilitätskonzept. Ideal ist auch hier ein Mix, ein differenziertes Nebeneinander aller Mobilitätsformen. Parkplätze brauchts sehr wohl, aber intelligent, am Rand der Innenstadt.
Das klassische Retail-Modell dürfte ausgedient haben
Das Geheimnis erfolgreicher Innenstädte ist der Nutzungsmix